ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt – Großer Schmerz

Bundesweit haben in evangelischer Kirche und Diakonie Deutschland mindestens 1.259 Personen sexualisierte Gewalt verübt. Betroffen sind bzw. waren davon mindestens 2.225. Das hat ein Forschungsverbund heute mitgeteilt. Bei der Präsentation der „ForuM-Studie“ wurde klar, dass dies nur „die Spitze der Spitze des Eisbergs“ sein kann. Da für die Forschungen u.a. keine vollständigen Akten vorlagen, sei hochgerechnet mit mehr als 9.000 Betroffenen zu rechnen. Betroffene haben mit „gravierenden Folgen“ und auffällig oft mit „schwerwiegenden Problemen in (Partnerschafts-) Beziehungen“ zu leben, ergibt die ForuM-Studie.

„Die Ergebnisse der ForuM-Studie haben wir ja geahnt. Trotzdem rührt mich das Leid der Betroffenen, das heute offenbar wurde, zutiefst“, bekennt die Superintendentin des Evangelischen Kirchenkreises An Sieg und Rhein, Almut van Niekerk. Der Forschungsverbund habe Fehler, Versäumnisse und blinde Flecken von Kirche und Diakonie im Umgang mit dem Thema sexualisierte Gewalt aufgedeckt. Kirche und Diakonie hätten sich schuldig gemacht durch den großen Schmerz und beschädigte Lebenswege von Betroffenen, so die Theologin, die auch Vorstandsvorsitzende der Diakonie An Sieg und Rhein ist.

„Sexualisierte Gewalt erleben zu müssen ist entsetzlich für Betroffene“, sagt Superintendentin Almut van Niekerk. Gerade wenn Menschen im Raum von Kirche und Diakonie sexualisierte Gewalt erfahren, ist die Diskrepanz verstörend: Das Vertrauen in die biblisch zugesagte Nächstenliebe und Achtsamkeit wird verletzt, im Fall von Zuwiderhandlungen durch Pfarrpersonen auch das Vertrauen in geistliche Amtspersonen.

Die Verantwortlichen im Kirchenkreis, seiner Diakonie und dem Jugendwerk werden die ForuM-Studie lesen, sich mit den Ergebnissen intensiv auseinandersetzen und dann Konsequenzen ziehen. „Ich verspreche mir Erkenntnisse, ob und an welchen Stellen wir nachjustieren oder auch komplett neu ansetzen müssen“, so die Superintendentin. Denkbar ist, dass das Schutzkonzept gegen sexualisierte Gewalt, das im Kirchenkreis An Sieg und Rhein gilt, nachgebessert werden muss.

Betroffenen dankt die Superintendentin. Erst deren Mut, Tabuisierungen und Schweigen zu überwinden und über erlittene sexualisierte Gewalt zu berichten, ermögliche eine Umkehr in der Evangelischen Kirche und Diakonie. Möglicherweise werden Betroffene durch die jetzigen Veröffentlichungen neu mit ihren schmerzlichen Erfahrungen konfrontiert – umso wichtiger ist, Hilfe zugleich offensiv und diskret anzubieten. Hilfe bieten unabhängige Vertrauenspersonen. Melden sich jetzt Betroffene oder beispielsweise auch Angehörige, um zu berichten, würden sie vermutlich zu Antworten beitragen und gegebenenfalls weitere Versäumnisse offenlegen. Superintendentin van Niekerk: „Wir können leider nicht ausschließen, dass wir noch mehr entdecken oder uns neue Sachverhalte von Betroffenen genannt werden.“

Die Verantwortlichen an Sieg und Rhein sind der Aufdeckung, Aufklärung und Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt verpflichtet. Sie intervenieren im Fall der Fälle systematisch und unterstützen Betroffene. Und sie pflegen eine nachhaltige Prävention. An Sieg und Rhein wurde schon vor einigen Jahren Aufarbeitung angestoßen: So hat die Superintendentin, abgesprochen im Kreissynodalvorstand, veranlasst, dass eine Fachkraft sämtliche Pfarrpersonalakten rückwirkend sichtet. Außerdem wurden die in der Evangelischen Kirche rechtlich selbstständigen Gemeinden aufgefordert, die bei ihnen aufbewahrten Personalakten ihrer Bediensteten zu prüfen. Bei den Nachforschungen – auch über Akten hinaus – über die letzten gut fünfzig Jahre zeigten sich Auffälligkeiten. Namen von fünf Personen wurden der heute bestehenden landeskirchlichen Meldestelle mitgeteilt. Die Meldestelle hat die weiteren Untersuchungen übernommen.

Für den hiesigen Kirchenkreis lässt sich allgemein sagen: Personalakten ergeben nur begrenzt Auskunft. Sonstige Unterlagen wie beispielsweise Sitzungsprotokolle von kirchlichen Gremien sind möglicherweise noch nicht vollständig aufgearbeitet. Themen wie Aufarbeitung haben in früherer Zeit noch nicht in die Dokumentenarchivierung Eingang gefunden. Sind früher Verantwortliche auf Betroffene zugegangen? Wurden Täterschaften anerkannt? Wurden Betroffenen Hilfen angeboten? Zu sehen in Überlieferungen sind Hinweise darauf, dass Maßnahmen ergriffen wurden: Teils wurden Freizeiten abgesagt, teils wurden staatliche Gerichte eingeschaltet. Aber: Manches lässt sich vielleicht auch bei allem Bemühen nicht rekonstruieren. „Das bedaure ich zutiefst“, sagt Superintendentin van Niekerk.

Vorbeugung gegen sexualisierte Gewalt ist eine bleibende Aufgabe, betont die Superintendentin. „Wir müssen dauerhaft gegen sexualisierte Gewalt vorgehen – in Form von Prävention und in Form von robustem Einschreiten, wenn Fälle passieren.“

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ekasur.de / Anna Neumann, 25.1.2024